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Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945

Verantwortlicher Autor: Kurt Lehberger Frankfurt am Main, 29.10.2025, 09:04 Uhr
Fachartikel: +++ Politik +++ Bericht 3679x gelesen
Buchbesprechung: Götz Aly „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945“.
Buchbesprechung: Götz Aly „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945“.  Bild: Kurt Lehberger

Frankfurt am Main [ENA] In seinem neuen Buch „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945“ analysiert Götz Aly die Gesellschaft und die Politik in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus. Die folgenden Aussagen sind aus dem Gesprächsabend am 15.10.2025 in der Deutschen Nationalbibliothek aufgezeichnet.

Nach der Weltwirtschaftskrise (1929-1933) war die große Mehrheit der Deutschen verarmt. !934 lebten ca. 80% am Rande des Existenzminimums. Der Sozialstaat sollte die Deutschen ruhigstellen. Die neuen Gesetze brachte der Bevölkerung Vorteile. Beispielsweise wurde der 1. Mai 1934 der Tag der Arbeit zu einem bezahlten Feiertag. Die Arbeitgeber zahlten dafür. Das Urlaubsgeld wurde erstmals 1940 eingeführt. Starke Schultern sollten mehr tragen: die Körperschaftssteuer wurde erhöht. 1920 startete sie mit einem Steuersatz von 10 Prozent, 1940 erreichte sie 40 Prozent. Die Reichsfluchtsteuer betraf besonders die Juden. Die Steuerpolitik wurde im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie durchgeführt und an den Kriegszielen ausgerichtet.

Eine Begeisterung für den Krieg gab es nicht. Eine hohe Verschuldung des Staates bestand schon 1940. Um der Zahlungsunfähigkeit zu entgehen, musste sich der Staat Kapital über Besetzung und Plünderung besorgen. Die Ausweitung des Krieges war notwendig. Das Vermögen der Juden wurde mit 7,5 Mrd. Reichsmark in den Haushalt bzw. die Kriegskasse eingebracht. Die Bevölkerung des Warschauer Gettos sollten nicht den Haushalt belasten, d.h. die Vernichtung war geplant. Welche Rolle spielt das Großkapital? Diese Frage wird nicht weiter vertieft. Für Götz Aly ist es der Mittelstand, die kleinen Unternehmen, die das System stützen. Die Arbeiterschaft wurde nach und nach der NSDAP untergeordnet.

Schon 1933 wurden die Gewerkschaften zerschlagen und ihr Vermögen einkassiert. Die Betriebsratswahlen weisen Gewinne für die NSDAP aus. Sie stellten bald die Mehrheit in den Betriebsräten. Das war auch eine Folge der gewaltsamen Unterdrückung der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitervertreter*innen in den Betrieben. Es gab viele Verhaftungen, aber die Zahl der Todesurteile und der Vollzug war nicht so hoch, ca. 50.000 in Deutschland. Viele Verfolgte flüchteten aus Deutschland, gingen ins Exil. Der deutsche Widerstand war minimal. Der Kreisauer Kreis hatte wenig Gewicht und werde gern überbewertet.

Götz Aly sagt, dass Tempo ein wesentliches Merkmal gewesen ist, so dass der Deutsche nicht mehr zum Nachdenken kam. Tempo meint, dass täglich Neues berichtet wurde, so schnell hintereinander, dass die Ruhe zum Nachdenken fehlte. Goebels erfand immer neue Ideen, um die Bevölkerung hinter die Kriegsziele zu bringen. Verleumdungen, Meinungsbildung mit allen Mitteln wurde praktiziert. Welche Rolle spielte die Kirche? Das Evangelische Sonntagsblatt schrieb zum neu eingeführten Feiertag am 1. Mai 1933: “Wir haben einen Volkskanzler! Das ist niemals so deutlich geworden wie an diesem Tag der nationalen Arbeit.”

Aly zeigt in seinem Buch auf, wie deutsche Protestanten und ihre kirchlichen Würdenträger beigetragen haben, Hitler an die Macht zu bringen und seine Macht in den ersten kritischen Monaten zu festigten. Während nicht einmal jeder fünfte Katholik für die NSDAP stimmte, tat das fast jeder zweite Protestant. In den Wahlen 1932 stimmten nur 17 % der Katholiken für die NSDAP, während es bei den Protestanten 43 % waren. Paul Althaus, evangelischer Theologe, schrieb in „Die deutsche Stunde der Kirche“, dass das christliche Denken die „völkische Besonderheit“ einzelner Menschengruppen als Ausdruck von »Gottes Schöpferfreude« bejahe. Damit wurde der Rassismus als Mittel der Ausgrenzung anerkannt.

Althaus empfahl, „nichtarische“ Bewerber, von kirchlichen Ämtern auszuschließen. Das Judentum sei dem deutschen Volkstum sehr fremd. Der Rassismus dringt in die Kirchenkreise vor. Superintendent Otto Dibelius ruft am Ostersonntag 1933 zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. In der katholischen Kirche wurde durch das Reichskonkordat 1933 die politische Enthaltsamkeit der Verbände verlangt. Das war ein Prestigeerfolg der Nationalsozialisten. 1934 als Zwangssterilisationen gesetzlich ermöglicht wurden, protestierte die katholische Kirche verhalten. Das Konkordat verlangte die Unterstützung der Regierung.

Die katholische Kirche war erpressbar. Die Sonderkommission der Gestapo hatte 1937 Fälle sexuellen Missbrauchs aufgedeckt und etliche Strafverfahren gegen Priester und Erzieher in den katholischen Heimen eingeleitet. Goebels spielte das als Trumpfkarte aus und die Kirche hielt sich ruhig, um Schlimmeres zu verhindern. PIUS XI. gab 1937 die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ heraus. Hieraus zitiert im Abschnitt 44: „… die verstehende und erbarmende Liebe zu den Irrenden …, kann nicht bedeuten irgendwelchen Verzicht auf die Verkündigung, die Geltendmachung, die mutige Verteidigung der Wahrheit und ihre freimütige Anwendung auf die euch umgebende Wirklichkeit.

Die erste, die selbstverständlichste Liebesgabe des Priesters an seine Umwelt ist der Dienst an der Wahrheit, und zwar der ganzen Wahrheit, die Entlarvung und Widerlegung des Irrtums, gleich in welcher Form, in welcher Verkleidung, in welcher Schminke er einherschreiten mag …“ herausgegeben vom Vatikan, am Passionssonntag, den 14. März 1937. In Bezug zur Euthanasie und den Massenmorden gab es Widerstand in der katholischen Kirche. Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, predigte 1941 von der Kanzel: „Ihr wisst doch, was da geschieht“. Im August stelle Goebels die Massenmorde ein. Ca. 70.000 Morde wurden bis dahin an den kranken und geistig behinderten Menschen verübt.

Der große Bruch kam mit der Reichspogromnacht: 9./10.11.1938. Die Ausplünderung der Juden flossen in die Kriegskasse. Die Volksgemeinschaft wurde zur Verbrechergemeinschaft. Nach Stalingrad kam das Gefühl auf, dass man den Krieg verlieren könnte. Die Angst vor Rache kam auf. Der Krieg durfte nicht verloren gehen. An dem Punkt als die Gräueltaten zunahmen, erhöhte sich die Schuld auf Seiten der Täter und der Familien, die Bescheid wussten. Die Angst vor Rache seitens der Russen, der Alliierten wurde geschürt, wir dürfen den Krieg nicht verlieren, sonst werden wir Schlimmes erleiden.

Götz Aly gelingt es viele Aspekte der Gesellschaft in der Zeit 1933 – 1945 aufzuzeigen, die den Krieg und die Vernichtung ermöglichten. Propaganda, Rassismus, Verfolgung und Vernichtung können nur begriffen werden, wenn wir die Kräfte in der Gesellschaft aufdecken und analysieren. Dazu leistet Götz Aly mit seinem Buch einen wertvollen Beitrag. Quelle: Gespräch mit Götz Aly und Rainer Hank am 15.10.2025 in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Buch: Götz Aly: „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945“, 768 Seiten, 2025.

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