Samstag, 18.01.2025 00:53 Uhr

Naturschutzverbände entsetzt über Kahlschlag - zu Recht?

Verantwortlicher Autor: Sergej Perelman Stuttgart/Weil der Stadt, 01.12.2024, 11:32 Uhr
Nachricht/Bericht: +++ Lokale Nachrichten +++ Bericht 2091x gelesen
Fällung läuft/Foto: NABU, Andrea Molkethin-Kessler

Stuttgart/Weil der Stadt [ENA] Mit Kettensägen und Baggern habe Weil der Stadt auf einer geschützten Streuobstwiese in Häugern-Nord am Morgen des 25.11.2024 in nicht einmal zwei Stunden 120 ökologisch wertvolle Streuobstbäume gefällt. NABU und BUND Baden-Württemberg werfen dem Bürgermeister "mangelnden Respekt vor dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip und den berechtigten Interessen der Bürger" vor. Die Stadtverwaltung sieht sich jedoch im Recht.

Die Stadtverwaltung begründet ihr Vorgehen damit, "dass das Verwaltungsgericht Stuttgart die Klagen zweier Naturschutzverbände gegen die Streuobstumwandlung im Neubaugebiet Häugern-Nord abgelehnt hat (Beschlüsse vom 22.11.2024). Die Genehmigung, den Streuobstbestand zu fällen, war bereits im Juli 2024 erteilt worden und wurde nun vom Verwaltungsgericht als rechtmäßig bestätigt. Die Stadt hat daher mit der Umwandlung am Montagmorgen, 25.11.2024, begonnen. Da die Naturschutzverbände allerdings umgehend Rechtsmittel eingelegt haben, wurde die Umwandlung im Laufe des Vormittags auf Anordnung des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim wieder gestoppt."

NABU und BUND werfen dem Bürgermeister Walter Dreistigkeit und eine Missachtung des Rechtstaatlichkeitsprinzips vor, "weil die Stadt wusste, dass wir eine Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht haben. Statt auf die Entscheidung der obersten Richter von Baden-Württemberg zu warten, haben sie das kleine Zeitfenster von zwei Stunden am Montagmorgen ausgenutzt, um Fakten zu schaffen. Mit mehreren Baggern und Motorsägetrupps wurde Baum für Baum systematisch umgelegt, um in möglichst kurzer Zeit maximalen Schaden anzurichten."

"Für uns ist klar", setzen die Naturschützer ihre Kritik am Vorgehen der Stadtverwaltung fort, "dass dieses Foulspiel Bürgermeister Walter zu verantworten hat. Dass die Untere Naturschutzbehörde die Rodungsgenehmigung erteilt hat, obwohl die ökologischen Gutachten für die Genehmigung bereits veraltet waren und der rechtskräftige Beschluss des Bebauungsplans noch ausstand, ist für uns der zweite Teil dieses Skandals."

Die Fällung der Bäume sei nach Aussage der Stadtverwaltung die Voraussetzung für die Umsetzung des Bebauungsplans Häugern-Nord, mit dem dringend benötigter Wohnraum geschaffen werden soll. Der Aufstellungsbeschluss wurde bereits 2017 gefasst. Unter anderem, da der Landtag im Jahr 2020 während des laufenden Verfahrens das Naturschutzgesetz geändert hat, hat sich die Planung seither immer wieder verzögert. Geplant werden 370 Wohneinheiten für circa 806 Bewohner sowie ein Nahversorger samt KITA und ein Hotel.

"Der 'Streuobstparagraf' (§33a Naturschutzgesetz Baden-Württemberg) besagt, dass Streuobstbestände mit einer Fläche von mehr als 1.500m² erhalten werden sollen, sofern die Erhaltung im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt. Im vorliegenden Fall war der Erhalt gegen den hohen Wohnraumbedarf in der Stadt, im wirtschaftsstarken Landkreis Böblingen und in der Region Stuttgart abzuwägen, in der die Stadt Weil der Stadt regionalplanerisch ein Unterzentrum mit Siedlungsschwerpunkt entlang der S-Bahn-Achse bildet. Das Neubaugebiet soll in circa 600 Meter Entfernung vom Weiler Bahnhof entstehen", begründet die Stadtverwaltung die Außerkraftsetzung des §33a.

Sylvia Pilarsky-Grosch, BUND-Landesvorsitzende, widerspricht der Wohnraum-Argumentation der Stadtverwaltung: "Die Stadt hat weder ihren Wohnraumbedarf ausreichend belegt, noch ihre Hausaufgaben bei der Innenentwicklung gemacht. Die Zerstörung dieses Biotops ist nicht zu rechtfertigen. Vor der Bebauung im Außenbereich muss Weil der Stadt die vielen Enkelgrundstücke erschließen und den hohen Leerstand an Wohnraum nutzen. Dass die Stadt das Neubaugebiet wie einen Keil in den Biotopverbund bauen will und seine Entwässerung in ein Naturschutzgebiet fließen soll, kommt erschwerend hinzu. Die Pläne gehören in die Tonne."

Insbesondere über die Argumentation der Naturschutzverbände, dass es gar keinen Wohnraumbedarf gäbe, wunderte sich Bürgermeister Walter: "Das widerspricht sämtlichen Prognosen, Studien und Erfahrungen – also allen vorliegenden Fakten. Für wohnungssuchende Menschen ist so eine Behauptung doch ein Schlag ins Gesicht!" Diese alternative Wahrheit habe auch vor dem Verwaltungsgericht nicht verfangen, so die Stadtverwaltung.

Johannes Enssle, NABU-Landesvorsitzender, erhebt ebenfalls Widerspruch: "Trotz aller Naturschutzbedenken ist in Weil der Stadt die Rodung von insgesamt 142 Streuobstbäumen beantragt und genehmigt worden. Es soll eine Fläche von fast zehn Fußballfeldern bebaut werden, inklusive europarechtlich geschützter Fauna-Flora-Habitat (FFH)-Flachlandmähwiesen. Und das, obwohl jüngst der Europäische Gerichtshof (EuGH) den besseren Schutz solcher Wiesen angemahnt hatte. So geht es nicht weiter, sonst wird es sehr teuer für Baden-Württemberg. Dass das Landratsamt Böblingen als Untere Naturschutzbehörde die Pläne der Stadt so leichtfertig absegnet und die Rodung sogar schon vor dem Satzungsbeschluss genehmigt hat, ist für uns mehr als irritierend."

Die Stadtverwaltung weise ausdrücklich darauf hin, dass der Fällung der etwa 140 Streuobstbäume im Plangebiet Neupflanzungen von 284 Obsthochstämmen in einem räumlichen Abstand von maximal 4 Kilometern zum Plangebiet gegenüberstehen. "Mir ist der Erhalt unserer Streuobstwiesen sehr wichtig. Wenn die Naturschutzverbände allerdings hier vom Wegfall eines Streuobstbestandes sprechen, dann ist das eine Irreführung der Öffentlichkeit", so Bürgermeister Christian Walter. "Es gibt nachher deutlich mehr Streuobst auf unserer Gemarkung als vorher." Leider ließen die Verbände diesen Teil der Wahrheit in ihren Stellungnahmen und Veröffentlichungen grundsätzlich weg.

"Trotz des Schutzes von Streuobstwiesen durch §33a des Landesnaturschutzgesetzes will die Stadt Weil der Stadt im Kreis Böblingen ein neues Stadtquartier ausgerechnet auf der Fläche bauen, die jetzt noch einen Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten bietet. Darunter sind streng geschützte und seltene Arten der Roten Liste, wie Wendehals und Grünspecht. Auch Fledermäuse, Amphibien und holzbewohnende Käfer sind betroffen. Sie verlieren Quartiere, Jagdgebiete und Wanderkorridore. Selbst wenn im Verhältnis 1:2 neue Bäume gepflanzt werden, wird es Jahrzehnte dauern, bis der Schaden, der hier angerichtet wurde, kompensiert ist", betonen die Naturschützer.

Zum hohen Wohnraumbedarf komme der Umstand, dass das Plangebiet Häugern-Nord räumlich alternativlos sei, da die Gemarkung der Stadt von einer schwierigen Topographie wie auch durch zahlreiche Schutzgebiete geprägt sei, sodass eine städtebaulich sinnvolle Umsetzung des Vorhabens nur im Plangebiet und nirgends anderswo erfolgen könne. Dies habe die Stadt im Vorfeld umfassend untersucht und begründet. "Bürgermeister Walter bittet die Naturschutzverbände und Gegner, den demokratischen Willen des Gemeinderates und die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Stuttgart nun zu akzeptieren. Bis zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim ist der weitere Vollzug der Streuobstgenehmigung ausgesetzt", appelliert die Stadtverwaltung.

"Für NABU und BUND handelt es sich beim Baugebiet Häugern Nord um einen besonders gravierenden Fall. Sie lehnen das Baugebiet strikt ab, denn die geplante Bebauung der Streuobstwiesen und Flachlandmähwiesen widerspricht nach ihrer Auffassung geltendem Naturschutzrecht. Die Untere Naturschutzbehörde des Landkreises Böblingen hat die Rodung der Streuobstwiese genehmigt, obwohl sie den ökologischen Wert des gesetzlich geschützten Lebensraums anerkennt", unterstreichen die Naturschutzverbände.

"Auch die Ausnahmegenehmigung für die Zerstörung von FFH-Mähwiesen wurde bereits erteilt, während Deutschland vor wenigen Tagen wegen des mangelnden Schutzes dieser Art Wiesen vom EuGH verurteilt wurde. NABU und BUND haben sich juristischen Beistand geholt und werden vor Gericht klären lassen, was der Paragraph zum Schutz von Streuobstwiesen in Baden-Württemberg wirklich wert ist und ob Stadtentwicklung selbst in solch gravierenden Fällen Streuobst schlägt", bekräftigen NABU und BUND ihren Protest.

Häugern-Nord, Fällung Streuobstwiese/Foto: BUND, Fritz Mielert
Baumfällung im Schnellverfahren/Foto: NABU, Andrea Molkethin-Kessler
Häugern-Nord, Bagger auf Streuobstwiese/Foto: NABU, Andrea Molkethin-Kessler
Für den Artikel ist der Verfasser verantwortlich, dem auch das Urheberrecht obliegt. Redaktionelle Inhalte von European-News-Agency können auf anderen Webseiten zitiert werden, wenn das Zitat maximal 5% des Gesamt-Textes ausmacht, als solches gekennzeichnet ist und die Quelle benannt (verlinkt) wird.
Zurück zur Übersicht
Photos und Events Photos und Events Photos und Events
Info.