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Die andere Seite des Mondes von Claude Lévi-Strauss

Verantwortlicher Autor: Kurt Lehberger Frankfurt am Main, 28.07.2024, 18:15 Uhr
Fachartikel: +++ Kunst, Kultur und Musik +++ Bericht 6001x gelesen
Fotomontage Häuser in Tokio Nähe Ueno Park, Buch im Kaffee
Fotomontage Häuser in Tokio Nähe Ueno Park, Buch im Kaffee  Bild: Kurt Lehberger

Frankfurt am Main [ENA] Das Buch „Die andere Seite des Mondes“ von Claude Lévi-Strauss ist kein Reiseführer. Es ist der Versuch, Japan und die japanische Kultur aus der Sicht des Anthropologen einzuschätzen, um das Fremde zu entzaubern und Gleiches in unserer und anderen Kultur zu erkennen.

Claude Lévi-Strauss wertvolle Beiträge regen uns zum Nachdenken an. Wir können darin einen Schlüssel finden, um in Japan Erlebtes zu enträtseln und damit Japan und seine Menschen besser zu verstehen. Claude Lévi-Strauss erfasst das Wesentliche, die Grundelemente und die Strukturen zu den Fragen: Was wir sind, woher wir kommen und was die Japaner in ihrer Kultur bewahren konnten. Das Wesentliche sind die Mythen, das Fundament unserer Geschichte. Die Struktur, die dem Menschsein zugrunde liegt, ist uns verborgen. Sie zeigt sich aber in den Mythen, die überliefert sind und die interpretiert werden müssen. Japan konnte seine Mythen bewahren. Sie leben fort.

Es gibt keine Vergangenheit, die nicht in die Gegenwart reicht und in die Zukunft führt. Die beiden entscheidenden Herausforderungen unserer Zeit sind einmal, die Wurzeln unserer Menschheit nicht zu vergessen und die zunehmende Weltbevölkerung. Beide Herausforderungen hat Japan gemeistert. Japan hat Merkmale, die es von anderen Kulturen unterscheidet. Claude Lévi-Strauss beschreibt diese als zentripetal, von der Peripherie zum Zentrum laufend. Der Mensch zieht das Werkzeug zu sich, als würde er die Natur zu sich heranziehen wollen und sogar sich die Natur einverleiben wollen. Der Einzelne steht nicht im Mittelpunkt. Die Menschheit, dann die Gruppe, dann zuletzt das Ich.

Das, was bei Descartes „Ich denke, also bin ich“ der Kernsatz und Ursprung des Denkens ist, kann in der japanischen Sichtweise nicht verstanden werden. Die Kulturen sind unterschiedlich. Keine kann die andere wirklich, das heißt in der Tiefe der Bedeutung, verstehen. Daher gibt es auch kein Ranking unter den Kulturen. Die abendländliche, westlich und die fernöstliche bzw. japanische Kulturen stehen gleichberechtigt nebeneinander. Die Auseinandersetzung mit der Natur in Liebe und Hingebung erbringt die Liebe zum Detail, die hohe Kunstfertigkeit in allen Disziplinen wie z.B. Schmiedekunst, Holzschnitzereien, Korbflechten, Textilfertigung und das Kochen und Anfertigen von Gerichten in den Grundelementen und ohne die Vermischung der Zutaten.

Japan zeigt sein intimes Verhältnis zur Natur. Hier sei auch der “Joman Geist” erwähnt, der vor 10.000 Jahren die hohe Qualität in der Töpferkunst hervorbrachte. Das Schlichte wird zur vollkommenen Ästhetik. Ein sensibler Cartesianismus nennt Claude Lévi-Strauss die Art und Weise wie die japanische Kultur den Reinzustand der Töne, Gerüche, Geschmacksrichtungen usw. in den Ausprägungen der täglichen Praxis aufrechtzuerhalten versucht. Shingaku ist eine Bezeichnung für die japanische Art, sich einer Aufgabe zu widmen. Dabei ist der Eifer und die Fröhlichkeit zu spüren, die mit der die Aufgabe verbunden werden. Sie wird als Teil des Ganzen gesehen, der notwendig und gut ist, um in der Gesellschaft miteinander zu leben.

Die Erdbeben in Japan spielen eine Rolle, um das Verhältnis zur Natur zu erklären. Das Wort „hai“ für „ja“ ist mehr als ein „verstanden“, sondern eine Hinwendung zu dem Gegenüber, mit dem das Gespräch geführt wird. Japans erfüllt den doppelten Standard. Es ist ein Industrieland und gleichzeitig ein Land der Natur. Hohe Bevölkerungsdichte in den besiedelten Gebieten an den Küsten und in den Tälern, nahezu bevölkerungsleere Gebiete in den Bergen. Die Industrialisierung wurde in nur wenigen Jahrzenten gemeistert, ohne die Wurzeln, die Natur aufzugeben. Die Beobachtung des Doppelstandards von Claude Lévi-Strauss bezüglich Tokios kann ich bestätigen.

Im Stadtteil Ueno in Tokio gibt es einzelne Häuser, kleine Häuser mit etwa der Größe und Höhe unsere Reihenhäuser, die Mitten in Tokio in den Seitenstraßen stehen und die liebevoll mit Töpfen mit Blumen und Sträuchern umgeben sind. Eine Idylle im Großstadt-Dschungel der Betonbrücken und Eisbahngleisen der U-Bahnlinien und der Shinkansen Züge. Durch die hybridangetriebenen Autos und Tempolimits sind die etwas abgelegenen Straßen deutlicher leiser als früher und insgesamt angenehm ruhig. Die Mythen sind ähnlich in Lateinamerika, indianischem Amerika, Indien, Asien – es gab vor 15 bis 20 Tausend Jahren einen gemeinsamen Kontinent, der sich erst später löste und Japan als Insel hervorbrachte.

Sprache und Mythen zeigen Gemeinsamkeiten der Kulturen. Was selbst für Claude Lévi-Strauss verblüffend war, als er dies bei seinen Japanreisen entdeckte. Wir sind eine Menschheit. Heute weiß man, dass es keine Rassen gibt. Wir stammen aus derselben DNA. In der Götterwelt spielen die Vermittlung zwischen Wasser, Meer und Land eine große Rolle. Die Mythen werden in der wissenschaftlichen Literatur unter den Codenamen „wedge test“ und „evil father-in-law“ geführt. Japan und das indianische Amerika kennen das gleiche Mythos: der Held überlebt die totbringenden Prüfungen des Vaters mit Hilfe der Tochter, die sich mit ihm gegen den eigenen Vater verbündet.

Der Flussübergang ist eine typische Geschichte, die es in vielfältigen Variationen gibt. Mal ist es die Schlange mal das Krokodil, das die Brüder über den Fluss bringt. Es gelingt ihnen nur durch Verhandeln, Feilschen, List anwenden und Täuschen, der Gefahr zu entrinnen. Claude Lévi-Strauss (1907 - 2008) war Soziologe, Ethnologe bzw. Anthropologe mit den Schwerpunkten Strukturalismus und vergleichende Religions- bzw. Kulturwissenschaften. Er reiste erst spät, als er über 50 Jahre alt war, nach Japan und war begeistert von der Vielfalt der Landschaften und der Freundlichkeit der Menschen. Er forschte kurz über Mythen und schrieb dazu das hier genannte Buch über Japan.

Als sechsjähriges Kind bekam er von seinem Vater japanische Farbholzschnitte als Anreiz für gute Schulnoten geschenkt. Er war fasziniert von der Darstellungsart und Sorgfalt dieser Kunstform. Da er Jude war, musste er aus Frankreich flüchten. Er verbrachte 1939 bis 1948 in New Yorck, USA, wo er als Soziologe und Anthropologe sich einen Namen machte. Er war befreundet mit Franz Boas (1858 – 1942), ein bekannter amerikanischer Anthropologe, der in Minden in Deutschland geboren wurde. Franz Boas starb 1942 in New York in den Armen von Claude Levi-Strauss. Er glaubte, dass alle Menschen die gleichen intellektuellen Fähigkeiten besäßen und dass alle Kulturen auf den gleichen geistigen Grundprinzipien beruhten.

Unterschiede in den Gewohnheiten und im Glauben, so argumentierte er, seien das Ergebnis historischer Zufälle. Ebenso bestand Claude Lévi-Strauss auf der Universalität der menschlichen Denkfähigkeit als Grundlage aller Kulturen und überwand damit die evolutionäre Sichtweise auf die Kulturen aus dem 19. Jahrhundert (vertreten durch Edward Tylor). Von 1933 – 38 führte Claude Lévi-Strauss ethnographische Studien in Brasilien im Amazonasgebiet durch. Darüber berichtet er in seinem berühmten Buch „Traurige Tropen“, das 1955 erschienen ist.

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