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Das Phänomen der „kognitiven Dissonanz“

Verantwortlicher Autor: Herbert Hopfgartner Salzburg, 10.03.2024, 21:17 Uhr
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Salzburg [ENA] Wenn zwei Wahrnehmungen, Weltanschauungen oder Haltungen zueinander im Widerspruch stehen, sodass eine möglicherweise das Gegenteil der anderen ausdrückt, entsteht Dissonanz. Dieser unangenehme Gefühlszustand würde verschwinden, wenn es keine Gegensätze gäbe. Man spricht dann von Konsonanz. In der Realität leiden jedoch immer mehr Menschen unter einer Unstimmigkeit von eigener Meinung und kontroversen Ansichten.

Menschen fühlen sich sichtlich wohl, wenn die Welt sich so darstellt, wie sie es vermuten; wenn ihre Freunde ähnlich „ticken“ wie sie und man in der Gruppe zu den wesentlichen Fragen der eigenen Befindlichkeit oder der allgemeinen Weltlage einer Meinung ist. Von diesen offenkundig „richtigen“ Überzeugungen, aber auch einer konstruierten Realität, möchte man sich auch nicht mehr trennen. Unerwartet passiert dann das Malheur: Man wird mit Fakten, abweichenden oder sogar gegensätzlichen Meinungen konfrontiert – Tatsachen, die den eigenen Wahrnehmungen völlig zuwiderlaufen!

Diese „Unstimmigkeiten“ wollen natürlich schnell gelöst und in eine „Konsonanz“ übergeführt werden. Dabei stellt man in der Folge nicht etwa die eigenen Ansichten infrage, sondern sucht, ohne zu zögern, den Fehler bei den scheinbar irrigen, absurden und völlig abwegigen Anschauungen des/der anderen. Der eher nüchterne Fachterminus für diese Erfahrung lautet „kognitive Dissonanz“: Unvereinbare mentale Ereignisse erzeugen Konflikte, die möglichst rasch überwunden werden wollen. Schon eine Fabel von Äsop demonstriert das Dilemma vorzüglich: Ein Fuchs kann die über ihn hängenden, verheißungsvoll prallen Trauben nicht erreichen. Jeder Versuch scheitert.

Anstatt sich über den entgangenen Genuss zu ärgern, redet er schließlich die Trauben schlecht: Indem sie ihm gar sauer erscheinen, sind sie es nicht mehr wert gepflückt bzw. geerntet zu werden. Seine Erfolglosigkeit steht damit nicht mehr zur Disposition. Mit anderen Worten: Reineke Fuchs bagatellisiert sein Problem bzw. spielt es herunter. Die Frage ist erlaubt, wie wir Menschen mit kognitiver Dissonanz umgehen wollen - vielleicht sogar wie der Fuchs?

Die Beharrlichkeit des Menschen, eigene Positionen nicht aufgeben zu wollen oder Fehler eingestehen zu können, ist groß – und währt auch erstaunlich lange. Eingefahrene Traditionen und liebgewonnene Gewohnheiten möchte man keinesfalls leichtfertig gegen unbekannte und unerprobte Handlungen tauschen. Auch das menschliche Gehirn arbeitet nach den Grundsätzen der Erfahrung (Routine). Neue und ungewohnte Einsichten und Erkenntnisse werden nur zögerlich zur Problemlösung herangezogen. In den (un)sozialen Medien sorgen Algorithmen dafür, dass man mit „zufällig“ empfohlenen Inhalten versorgt wird, die eine kognitive Dissonanz weitgehend ausschließen:

Auf diversen Plattformen trifft man erstaunlich schnell Geistesverwandte, mit denen man dieselben Inhalte teilt und (schon deshalb) gegen Andersdenkende bedenkenlos schwadronieren kann. Das eigens aufgebaute „Glaubenssystem“ wird untermauert, wobei den Menschen in der Blase nicht bewusst ist, in welcher Abschottung sie sich eigentlich befinden, wie selektiv sie die Welt wahrnehmen und wie immun sie gegen andersgeartete Argumente bzw. gegenteilige Erkenntnisse handeln. In diesem Zusammenhang ist an den „Dunning-Kruger-Effekt“ zu erinnern, der die kognitive Verzerrung im Selbstverständnis mancher Menschen beschreibt, die das eigene Wissen und Können gerne überschätzen.

Diese Anlage beruht nicht zuletzt auf der Unfähigkeit, sich selbst mittels Metakognition objektiv zu beurteilen…Das Unbehagen, das einen befällt, wenn sich die eigene Meinung als möglicher Irrtum zeigt, begegnet uns täglich in vielerlei Gestalt: Ein egozentrisches Denken verhindert oft genug den Prozess des Lernens, auch wenn Fakten oder objektiv bessere Problemlösungen die eigene Ansicht längst in Zweifel gezogen haben. Nachdem die kognitive Dissonanz das eigene Selbstbild (mitunter massiv) infrage gestellt hat, muss die entstandene Kluft zwischen Selbsteinschätzung und Realität durch fadenscheinige Rechtfertigungen und Ausreden bzw. Schuldzuweisungen gegenüber anderen verringert werden.

Wenn z.B. Beziehungen scheitern oder der Partner/die Partnerin die eigenen, völlig offenkundigen Vorzüge nicht und nicht bemerken will: Fast immer sucht man voreilig den Fehler beim anderen. Statt unangenehmen Wahrheiten zu begegnen, flüchtet man zu angenehmen Unwahrheiten… In der Politik ist das Phänomen der kognitiven Dissonanz ein besonders heikles Thema: Verschiedene Ideologien, ein „Freund-Feind-Schema“ und ein Schielen auf Umfragewerte lassen fast jedes Thema zum großen (und medial inszenierten) Konflikt werden, wobei populistisch agierende Politiker gerne „zündeln“ und in ständiger Medienpräsenz Auseinandersetzungen provozieren. Sie zeigen „dissonante“ Probleme auf und bestimmen rasch Schuldige.

Eine Lösung des Problems bleiben sie indes schuldig. Auch an einem politischen Kompromiss – also einer Vermittlung der unterschiedlichen Standpunkte – sind sie nicht interessiert. Damit treiben sie einen Spalt in die Gesellschaft, wobei die vergiftete und emotional hochgeschaukelte Atmosphäre die gegenteiligen Ansichten nur noch verhärtet. Sie, die „Zündler“, tragen nie die Verantwortung für eine Eskalation, obwohl nur sie diese bewusst und beabsichtigt herbeigeführt haben. Stattdessen schüren sie nach dem Prinzip „divide et impera“ („teile und herrsche“) im Volk den Unfrieden. Große Teile in der Bevölkerung durchschauen diese Durchtriebenheit anscheinend nicht.

Statt gemeinsam gegen die Unfähigkeit eines Populisten zu protestieren, streiten sie sich und schwächen sich damit nur gegenseitig. Der Zwietracht Säende und zu einer anständigen Politik gar nicht Fähige regiert in der Folge mit vollmundigen Ankündigungen ein Land, dessen Einwohner in Kleinkriege verwickelt sind und gar nicht Zeit und Lust haben, sich mit lösungsorientierter Politik zu beschäftigen.

Auch die Wissenschaft ist vor dem Problem nicht gefeit: Zum einen sind Forscher und Wissenschaftler auch (nur) Zeitgenossen mit menschlichen Schwächen, die den gleichen kognitiven Biases (z.B. Verfälschungen und Verzerrungen in der Datenerhebung) und psychologischen Mechanismen (z.B. Vorurteilen, falschen Untersuchungsansätzen, Erwartungshaltungen oder Interpretationen) unterworfen sind – Unzulänglichkeiten also, die alle Menschen aufweisen. Zum anderen sorgt die vorherrschende Mentalität in der wissenschaftlichen Community, „publish or perish“ („veröffentliche oder gehe unter“), dafür, dass ständig Publikationen herausgegeben werden müssen, um in der Szene präsent zu sein, einen Arbeitsplatz oder einen Forschungsauftrag zu behalten.

Hannah Arendt meinte dazu schon 1972 (!), dass „dieses ‚Publish-or-Perish‘-Geschäft eine Katastrophe ist. Die Leute schreiben Dinge, die niemals hätten geschrieben werden dürfen und die niemals gedruckt werden sollten. Niemanden interessiert das. Aber damit sie ihren Job behalten und die richtige Beförderung bekommen, müssen sie es tun. Es erniedrigt das ganze geistige Leben.“ Wie kann man eine kognitive Dissonanz nicht nur verdrängen, sondern nachhaltig lösen?

Zuallererst ist wohl eine gehörige Portion an Selbstreflexion nötig, um eingefahrene Denkwege oder verkrustete Anschauungen zu überwinden. Wenn man sich der Wirklichkeit stellen will, muss man ohnehin Vorurteile und eigene Eitelkeiten beiseiteschieben und sich auf neue, vielleicht auch unbequeme Meinungen und Standpunkte anderer einstellen. Besonders Mutige und Ehrliche können die Unstimmigkeiten und Missklänge auch durch sensibel geführte Gespräche (Feedback, Evaluation, Supervision, Mediation, Gesprächstherapie) auflösen.

Als Fazit mag gelten, dass sich widersprüchliche Weltsichten nicht allzu leicht beseitigen lassen. Man sollte nicht den (üblichen) Fehler begehen und die sympathischere Sichtweise behalten, sondern die Anschauung akzeptieren, für die sich mehr empirisch nachprüfbare Belege finden lassen. Auch wenn es Missverständnisse in der menschlichen Kommunikation immer wieder geben wird, sollte man es mit René Descartes halten, der meinte: „Ich bin nicht Ihrer Meinung, aber ich werde mich vehement dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“

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