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Kulturelle Aneignung - ein politisches Reizthema

Verantwortlicher Autor: Herbert J. Hopfgartner Salzburg, 26.03.2023, 15:13 Uhr
Fachartikel: +++ Kunst, Kultur und Musik +++ Bericht 13175x gelesen

Salzburg [ENA] Dürfen Europäer Dreadlocks tragen? Ist es unethisch, wenn weiße Musiker einen Blues intonieren? Und muss man das „Zigeunerschnitzel“ endgültig von der Speisekarte streichen? Die Fragen sind nicht schnell mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten – die Problematik ist wesentlich komplexer. Verschiedene Zivilisationen und Ethnien haben sich seit ewigen Zeiten gegenseitig beeinflusst, freilich nicht immer zum Vorteil aller.

Schon 1952 bemerkt der Kulturanthropologe Claude Lévy-Strauss, „dass jeder kulturelle Fortschritt Funktion einer Koalition zwischen den Kulturen ist.“ Seiner Meinung nach „besteht diese Koalition in der (bewussten oder unbewussten, willentlich oder unwillentlichen, beabsichtigten oder zufälligen, gesuchten oder erzwungenen) Zusammenlegung der Chancen, die jede Kultur in ihrer historischen Entwicklung hat.“ Gleichzeitig fordert Lévy-Strauss ein „Gefühl der Dankbarkeit und Bescheidenheit, das jedes Mitglied einer jeden Kultur gegenüber allen anderen empfinden kann und muss.“

Ihm geht es augenscheinlich um einen Austausch auf Augenhöhe, also um Allianzen und Vereinigungen von gleichwertigen Partnern und nicht um den hinreichend bekannten eurozentristischen Hochmut, andere Kulturen als minderwertige Repliken der eigenen herabzusetzen oder zu diskreditieren. Der Terminus „kulturelle Aneignung“ („Cultural Appropriation“) bezeichnet den Vorgang einer Übernahme von gebräuchlichen Ausdrucksformen, Kunstformen, Geschichten und Kenntnissen einer anderen Kultur oder Identität, wobei zumeist eine „dominante Kultur“ sich anthropogene Elemente einer „Minderheitskultur“ ungefragt, ohne Genehmigung, Anerkennung oder finanzielle Entschädigung einverleibt.

In diesem Zusammenhang soll erinnert werden, dass viele europäische Länder jahrhundertelang andere Völker militärisch, politisch und wirtschaftlich unterdrückt und nicht zuletzt damit ihren eigenen Wohlstand begründet haben. In dem Moment, in dem eine dominante Bevölkerungsschicht Bestandteile einer Minderheits- oder Subkultur wahrnimmt, diese übernimmt und auf dem Markt als Ware anbietet, wird der ursprüngliche und ideelle Wert des gefertigten Gegenstandes oder der rituellen künstlerischen Äußerung trivialisiert und in der Folge einer industrialisierten Herstellung als arbeitsteilig produzierte Massenware banalisiert.

Falsch oder verzerrt wiedergegebene Ausdruckformen (z.B. Kultur der Rastafarianer, indigenen Bevölkerung Amerikas, Afroamerikaner, Kreolen, Maoris…) fördern zudem eine Wahrnehmung widersinniger Stereotypen (Reggae, Indianerfilme, Blues, Latin Music…). Die US-amerikanische Juristin Susan Scafidi versucht in ihrem Buch Who Owns Culture? Appropriation an Authenticity in American Law (2005) eine Definition: Für die Autorin heißt „Cultural Appropriation“, dass man intellektuelles Eigentum, traditionelles Wissen, aber auch kulturelle Ausdrücke und Artefakte anderer gebraucht, „um damit den eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Individualität auszudrücken oder schlichtweg: um daraus Profit zu schlagen.“

Nun ist der Urheberschutz in der Rechtsprechung im Gegensatz zu sozialen Gruppen zwischen Individuen längst geregelt: Ein Musikstück, ein Bild oder eine Photographie, ein Text, mitunter auch eine Inszenierung können in der Regel einem Komponisten, Künstler, Autor oder Regisseur zugeordnet werden. Im Zweifel wird eine Expertise von Fachleuten eingeholt, damit ein unabhängiges Gericht ein gerechtes Urteil in Bezug auf die Frage, wem nun das geistige Eigentum zugesprochen wird, fällen kann. Hinsichtlich einer Kultur oder Gemeinschaft lässt sich aber kaum sagen, wer dieser angehört bzw. welche Eigenschaften diesem Volk, also einem Kollektiv, „gehören“.

Wer ist ein echter Österreicher? Gewiss, eine schwierige Frage… Möglicherweise ist ein Österreicher der, der in diesem Land geboren ist oder dessen Eltern und Großeltern schon Österreicher waren. Vielleicht isst ein Österreicher vorwiegend österreichische Speisen (Wiener Schnitzel, Schweinsbraten), hört österreichische Volksmusik, Popmusik sowie Ernste Musik und liest vorwiegend österreichische Literatur. So Gott will (!), geht er am Sonntag in die heilige katholische Messe und hisst artig an den Staatsfeiertagen die rot-weiß-rote Flagge vor seinem Haus.

Im Sommer besucht er mit der ganzen Familie die zahlreichen Zeltfeste, konsumiert das berühmt-berüchtigte Grillhenderl und trinkt dazu Bier oder weiße Spritzer – die Leber wächst ja bekanntlich mit ihren Aufgaben. Musikalisch Begabtere beherrschen intonationssicher alle Strophen der Bundeshymne und geographisch Bewanderte können die wichtigsten Grenzübergänge oder Gebirgspässe auswendig aufzählen. Zudem müsste ein „richtiger“ Österreicher auch die wichtigsten Prinzipien der Bundesverfassung kennen.

Kulturelle Emanzipation oder Befreiung? So rätselhaft es nun ist, wer sich als „echter“ Österreicher fühlen darf, so undurchschaubar ist auch der Diskurs um eine kulturelle Identität. Nachvollziehbar und berechtigt erscheint der Wunsch, dass man eine ausgebeutete Minderheitskultur vor einer ausbeutenden Mehrheitskultur schützt. Auf der anderen Seite möchte man einen Zwang zu einer Identität wider Willen nicht akzeptieren. Letztendlich erscheint es zweifelhaft, ob es überhaupt eine kulturelle Entwicklung geben würde, wenn man – freilich nur theoretisch – eine Aneignung prinzipiell verbieten würde.

Der Hip-Hop ist in den 1970er Jahren in New York entstanden, nachdem u.a. jamaikanische Migranten wichtige Elemente des Reggae, z.B. das Sound System oder das Toasting (also den Sprechgesang), mit afroamerikanischen Musikstilen wie Rhythm & Blues und Soul vermengten. Die Frage, ob nun ausschließlich Jamaikaner einen Reggae und dunkelhäutige Einwohner der South Bronx Hip-Hop musizieren dürfen, ist wohl eher zu verneinen.

Nichtsdestotrotz muss an dieser Stelle betont werden, dass weiße Musiker seit Beginn der Jazz- und Rockgeschichte nahezu alle Stile der schwarzen Musiker kopiert haben – und mehr noch: dass unzählige schwarze Musiker von den Medien und der Industrie (Radiostationen, Plattenfirmen, Fernsehshows) ignoriert und damit auch finanziell bzw. wirtschaftlich betrogen wurden. „Cultural Appropriation“ erfordert also eine historische Aufarbeitung.

Kulturelle Apartheit als Ziel? Wenn ausschließlich europäische Kunstexperten über Kultgegenstände von Naturvölkern diskutieren, ist es genau so selbstgefällig und unsensibel wie der Umstand, dass der Begriff „Zigeuner“ als politisch unkorrekt gilt und ja nicht verwendet werden darf, obwohl viele Angehörige der Roma und Sinti sich selbst noch immer und voller Stolz so bezeichnen! Daher sollte in der kulturellen Auseinandersetzung vor allem das Selbstverständnis einer Minderheit oder einer Subkultur wahrgenommen werden. Eine wissenschaftlich korrekte Bezeichnung entpuppt sich möglicherweise als völlig falsch.

Nichtsdestotrotz sind ein statischer Kulturbegriff und die reaktionäre Idee einer kulturellen Reinheit gefährlich wie unsinnig: Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es innerhalb eines Volkes oder einer Zivilisation eine einzige Kultur. Mit anderen Worten: Der „echte Deutsche“ und der „wahre Wiener“ haben nie existiert! Nicht nur das: Lebendige, dynamische Kulturen verschließen sich prinzipiell einer kollektiven und doktrinären Fixierung von außen. Stattdessen sind eine gegenseitige Beeinflussung der Kulturen und eine daraus entstehende Vielfalt nicht nur aus evolutionären Gesichtspunkten, sondern auch aus sozialen und ästhetischen Gründen gut und wichtig.

Gewiss, ein kultureller Austausch zwischen verschiedenen Milieus und sozialen Gruppen sollte nicht nur eine gegenseitige Anerkennung und die Zustimmung aller Beteiligten, sondern auch einen gerechten Vorteilsausgleich beinhalten – gerade in einer globalisierten Welt. Dann ist dieser Prozess vielleicht sogar eine wichtige und notwendige Kulturtechnik, die ein friedliches Zusammenwachsen der Generationen und Kulturen möglich macht.

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